Am 23. März am frühen Nachmittag gab die Regierung Neuseelands bekannt, dass weitreichende Maßnahmen zur Einschränkung des neuartigen Coronavirus eingeführt werden würden. Insbesondere würden nach 48 Stunden nicht nur alle nicht-notwendigen Geschäfte eingestellt, sondern auch das Reisen nach, aus und innerhalb von Neuseeland. Jeder Mensch in dem Inselstaat solle in häusliche Selbstquarantäne gehen und nur zum Einkaufen und Luft Schnappen vor die Tür gehen.
Das kam für mich ziemlich überraschend. Bis zu dem Zeitpunkt kam es mir so vor, als würde Neuseeland einen anderen Ansatz zur Bekämpfung der Pandemie einschlagen, da es zu dem Zeitpunkt etwa hundert Fälle gab und diese relativ gut nachverfolgt werden konnten. Ich vermutete, die Regierung würde die Grenzen nach Außen zumachen und im Land alle Erkrankungen zügig identifizieren und isolieren. Ich konnte es nicht fassen, dass meine Reise nun doch so plötzlich vorbei sein würde.
Bei dieser Ankündigung befand ich mich in Queenstown und hatte gerade Joana am kleinen Flughafen abgeholt, mit der ich die Stadt und dortigen Aktivitäten erfahren wollte. Es war ein surrealer Anblick: Mitten am Tag begannen alle Restaurants und Geschäfte zu schließen; an einem Spielplatz sperrten Beamte in Warnweste das Klettergerüst und die Rutsche ab. Wir liefen noch etwas durch den Ort, während wir grübelten, was wir jetzt machen würden. Relativ bald war klar, dass man wenige Optionen hätte, bliebe man in Queenstown. Zähneknirschend sahen wir ein, dass man wegen des großen internationalen Flughafens am Flexibelsten nahe Christchurch wäre, egal, wie sich die Lage weiterentwickeln würde.
Am nächsten Tag musste ich also mehr als sieben Stunden lang quer über die ganze Insel fahren. Im Landesinneren lebt kaum jemand, hier liegt die Dark Sky Reserve, also das Schutzgebiet für dunklen Nachthimmel. Es gibt jedoch ein paar Touristenorte an Gebirgsseen entlang der Strecke. Davon ist das Mount-Cook-Dorf nennenswert, was zu den Hauptsehenswürdigkeiten Neuseelands zählt. Immer wieder hielt ich an genialen Aussichtspunkten an.
Die Fahrt ging zur Banks-Halbinsel; dort in dem gemütlichen Ort Akaroa war auch Tereza untergebracht, die ich aus dem fernen Norden kannte. Diese Halbinsel ist eine der wenigen vulkanisch geprägten Gegenden der Südinsel. Hauptsächlich zwei große, sich überlappende Vulkane hoben das Land stark im Vergleich zu der sehr flachen Canterbury-Ebene an. Im Verlaufe der Zeit formte das Wasser Täler und zwei weit in die Halbinsel hineinreichende natürliche Häfen. An einem davon liegt Akaroa, die einzige Kolonialsiedlung von Franzosen in Neuseeland, weshalb die Stadt leicht französisch angehaucht ist: französische Straßennamen, Restaurants und Flaggen.
Erschöpft fuhr ich über den Rand des Kessels und sah dann darin das erste Mal die Bucht und den Ort, an dem ich die Quarantäne verbringen würde. “Hier würde es sich gut aushalten lassen”, wurde mir in dem Moment klar. Das Madeira Hotel ist eigentlich ein Hostel für Backpacker und ein Pub und liegt im Zentrum des Ortes, unweit des einzigen Supermarktes. Da nur so wenige Leute zur Zeit in dem Hostel leben, habe ich netterweise von dem Hostelbesitzer einen eigenen Raum bekommen, in dem es nur ein überbreites Bett gab. Aus dem Fenster hatte ich sogar Meerblick! Mindestens genauso spannend war aber der Baum, der im Laufe der Wochen von einem saftigen Grün, über Gelb, Rot auf Braun in sein Herbstgewand wechselte. Drei von vier Jahreszeiten in Neuseeland habe ich also schon mitbekommen.
Die Tage flogen nur so dahin: Gemütlich frühstücken, ein bisschen was programmieren, einmal am Tag eine kleine Wanderung oder zumindest ein Spaziergang, etwas unspektakuläres kochen, viele Filme und Serien schauen und mit den netten Leuten im Hostel oder der Katze Maisie Zeit verbringen. Fast alle in dem Hostel waren deutsch; eine Gruppe von netten Abiturienten lebte schon früher über einen längeren Zeitraum zum Arbeiten in Akaroa und sorgte immer für gute Stimmung in den Gemeinschaftsräumen. Das waren Kathi, Alina, Laura, Hannah und das Pärchen Joni und Ricky. Die zwei Franzosen, Riad und Matthieu, leben dort schon ein paar Monate und wollen noch deutlich länger bleiben. Außerdem lebten dort noch zwei weitere, etwas ältere Deutsche: Jule und Marie, die aber etwas zurückgezogener waren.
Im Hostel war immer etwas los: An einem Tag habe ich allen Pokern beigebracht und bin dann natürlich als erster rausgeflogen. Über drei Tage haben wir außerdem alle Folgen der spanischen Netflix-Serie la casa de papel über einen fiktiven Einbruch in die spanische Banknotendruckerei gesehen, die ich extrem spannend fand. An vielen Abenden haben wir bei ein paar Bieren zusammengesessen, geplaudert und Spiele gespielt. Da hat mir Guess besonders Spaß gemacht: In dem Spiel fügt jeder heimlich zwei bis drei Lieder zu einer Playlist hinzu; später muss geraten werden, wer welches Lied ausgesucht hat. Wir hatten in dem Hostel nicht nur einen Fernseher, sondern sogar zwei Playstations, an denen wir das stressige Kochspiel Overcooked gespielt haben.
Dass man so viel Zeit drinnen verbringen musste, lies sich jedenfalls gut in dem Hostel aushalten, obwohl ich immer froh war, wenn ich mal wieder raus konnte, auch wenn es nur ein kleiner Spaziergang zum Leuchtturm war. Mit den Wanderungen habe ich mich etwas vom Lockdown ablenken können und die Umgebung erkunden können. Die Berge der Halbinsel waren erstaunlich steil und hoch. Es hat sich also immer gelohnt, wenn man oben angekommen ist. Durch diese ist der Ort extrem gut vor schlechtem Wetter geschützt: Fast alle Wolken regnen sich an der Außenseite ab, sodass es an der Bucht praktisch immer sonnig und warm ist. Der Kontrast wurde mir richtig klar, als ich bei T-Shirt-Wetter in Akaroa auf der anderen Seite etwas gefroren habe.
Die deutsche Botschaft in Wellington richtete währenddessen die größte Rückholaktion in der Geschichte der Bundesrepublik ein: Mehr als zehntausend Deutsche, die nicht mehr aus Neuseeland ausreisen konnten, da praktisch alle Flüge gestrichen waren, sollten nach Hause gebracht werden. Ich tat mich mit der Entscheidung schwer, ob ich diese garantierte Möglichkeit nach Hause zu kommen wahrnehmen würde, oder ob ich das Risiko eingehen würde auf unbestimmte Zeit in Neuseeland zu bleiben, bis man wieder fliegen könnte und der ganze Virusspuk zuende wäre. Letztendlich hat die Vernunft gewonnen und ich meldete mich auf einer speziellen Webseite für die Rückreise an, obwohl ich so einige Ziele verpassen würde, auf die ich mich schon gefreut hatte. In dieser Zeit ist jeder irgendwie dazu gezwungen, Kompromisse einzugehen. Ich finde es aber absurd, aus einem Land mit zu dem Zeitpunkt etwa tausend COVID-19-Fällen in eines mit hundert mal mehr Fällen evakuiert zu werden.
Das deutsche Rückholprogramm war ein diplomatisches Kunststück: Eigentlich wollte die Regierung von Neuseeland gar keine Reisen zulassen und musste dazu erst vom Bund überzeugt werden. Dann wurden aber täglich mehrere Flüge aus Auckland und Christchurch nach Frankfurt von Air New Zealand und Lufthansa in deren jeweils größten Maschinen geplant. Nach mehreren Aufrufen zur Aktualisierung der Daten im System erhielten schließlich nach und nach alle Interessenten E-Mails mit den Flugtickets, die erst irgendwann in der Zukunft zum Preis eines “normalen Economy-Tickets” bezahlt werden müssten.
Mein Flug wurde schließlich für Ostersamstag, den 11. April angekündigt. Nach zweieinhalb Wochen Quarantäne ging es für mich also nach Deutschland, wo mich nochmal zwei Wochen Quarantäne erwarteten. In den letzten Tagen zeigte sich Akaroa nochmal von der schönsten Seite: tolle Sonnenuntergänge und warmes, sonniges Wetter. Ich bin sogar einmal kurz beim Steg im Meer geschwommen! Im Hostel gab es nun jeden Tag eine Person, die verabschiedet wurde, sodass es langsam noch leerer wurde. Die Stimmung war aber nicht nur dank des leichten Kiwibiers weiterhin top.
Eine Sorge, die ich hatte, war mein Auto. Ich versuchte natürlich es zu verkaufen, was wegen des Virus aber extrem erschwert war. Zum Glück habe ich tatsächlich ein paar Kiwis gefunden, die mir das Auto mit praktisch keinem Kontakt abkaufen würden. Ich habe zwar einen leichten Verlust gemacht, der aber deutlich niedriger war, als ich befürchtet hatte. Die Anderen im Hostel haben übrigens ihre Autos einfach in Akaroa gelassen und wollen versuchen die Autos aus der Ferne zu verkaufen.
Schließlich war der Tag da.
Um 7:30 morgens verließ ich das Hostel und fuhr ein letztes Mal mit meinem Nissan Note.
Diesmal war ich für die Fahrt auch richtig erholt und genoss noch einmal die tolle, abwechslungsreiche Landschaft, bis ich wieder auf der Ebene um Christchurch ankam.
Nachdem ich meine Maske aufgesetzt hatte, sammelte ich den Käufer des Autos vor seiner Haustür ein und fuhr mit ihm 5min zum Flughafen.
Er wollte sich nicht mal das Auto genauer ansehen und vertraute mir total, dass da alles in Ordnung ist.
Hierfür hatte ich eigentlich eine Stunde eingeplant, aber das sollte mir nur recht sein.
Er zückte aber sofort das Handy und tippte meine Kontonummer ein.
Wenige Minuten später verließ ich mein sein Auto und übergab mit weit ausgestrecktem Arm den Schlüssel.
Es war ein wirklich tolles, zuverlässiges Auto.
Vor dem Haupteingang des Flughafens standen schon ein paar Menschen, die auch die Schilder an den Türen entdeckt hatten: “Lufthansa / Air New Zealand: confirmed ticket” und “stand-by passengers”. Manche Leute, die in Flughafennähe untergekommen waren, wurden gebeten zum Flughafen zu kommen, um mitzufliegen, falls Leute nicht ihre Flüge antreten würden, was angeblich bis zu 60 von etwa 400 pro Flieger waren. Ich hatte zum Glück ein bestätigtes Ticket und vertrat mir noch etwas die Beine, bis ich relativ weit vorne einen Platz in der Schlange bekam. Leute von der deutschen Botschaft verteilten weitere Formulare, die wir ausfüllen mussten.
Um halb elf ging es schließlich los. An Tischen, an die Bundesflaggen geklebt waren, wurde der ganze Papierkram erledigt und die Reisepässe kontrolliert. Ab dann hieß es wieder warten an weiteren Stationen: Als nächstes Check-In und Kofferaufgabe bei Air New Zealand, dann die übliche Handgepäckskontrolle, ein paar Sicherheitsfragen für die kanadische Regierung, da wir dort zum Tanken halten würden und schließlich am Gate. Es war schon ein ungewöhnlicher Anblick: niemand im Terminal außer uns, die Geschäfte geschlossen, überall heruntergelassene Gitter. Mitten im Terminal aber ein paar Tische mit Bergen an Wasserflaschen, Chips und Müsliriegeln. Verhungern würden wir nicht.
Um 14:30 betrat ich endlich den rappelvollen Flieger und stellte überrascht fest, dass ich einen Fensterplatz hatte. Von dort hatte ich einen tollen Blick auf die Banks-Halbinsel und generell die Ostküste, sowie später auf Vancouver, wo wir zwölf Stunden später landeten. Nach einer Stunde Tanken und Lebensmittel einladen waren es von dort aus nochmal zehn Stunden bis Frankfurt. Die Flüge waren bis auf die lange Dauer doch ziemlich unspektakulär. In den etwa 24 Stunden im Flieger wurde es zwei Mal Nacht und wieder Tag, was die innere Uhr doch schon ziemlich verwirrt hat. Im Gegensatz zu der Billigfluggesellschaft Scoot, mit der ich nach Sydney geflogen war, gab es Getränke und vier Mahlzeiten an Board: zwei Dinners und zwei Frühstücke. Auch gab es einige echt gute Filme und Serien im Entertainmentsystem. Ich habe mir zum Beispiel ein paar Folgen Wellington Paranormal angesehen, in der die Polizei in Wellington außergewöhnliche Fälle untersucht, wie zum Beispiel Vampire, Aliens, …
Es war schon echt ein langer Flug. Die beiden Crews von Air New Zealand, die uns geflogen haben, haben sich aber Mühe gegeben, es für uns so angenehm wie möglich zu machen. Um sechs Uhr morgens Ortszeit sind wir endlich am Flughafen von Frankfurt am Main gelandet. Natürlich haben alle Passagiere das Klischee erfüllt und lautstark für die Crew applaudiert. Die hat sich dann auch bei uns bedankt, dass wir so ruhig geblieben sind, da so lange wie wir noch nie jemand in einem Air New Zealand-Flugzeug gesessen hätte. Wir durften nicht alle auf einmal das Flugzeug verlassen, sondern nur in Gruppen nach den Sitzplätzen, um den Kontakt mit den anderen im Flugzeug zu minimieren. Durch die automatisierte Reisepasskontrolle ist man dann sehr schnell zu den Gepäckbändern gekommen und raus Richtung Bahnhof.
Der ganze Ablauf des Rückholprogramms lief so reibungslos, dass ich einen ICE zwei Stunden früher als geplant bekommen habe. Die Schaffnerin hat mich netterweise mitgenommen, obwohl ich nur ein Ticket für den späteren Zug gehabt hätte. Mit beeindruckenden 300km/h raste der Zug ohne Stopp bis Köln und nach insgesamt weniger als zwei Stunden kam ich am vertrauten Hauptbahnhof von Bochum an. Mir war das nicht bewusst, dass der Frankfurter Flughafen zeitlich so nah am Ruhrgebiet liegt. Wenn ich in Zukunft mal wieder fliegen werde, werde ich auch nach Flügen aus Frankfurt suchen, nicht nur aus den näheren Flughäfen in Düsseldorf, Dortmund, Köln/Bonn oder Weeze… Sowohl im ICE als auch in der 308-Straßenbahn war es schaurig-leer.
Um halb elf am Ostersonntag kam ich nach 37 Stunden Reisen zu Hause an und begab mich nach einer wohltuenden Dusche in Quarantäne. Es wäre schön gewesen, wenn ich unter anderen Umständen nach Hause gereist wäre, da ich noch gerne mehr von Neuseeland erkundet hätte, jedoch war ich dann doch froh, wieder zu Hause zu sein.
Eines Tages komme ich aber bestimmt noch einmal nach Neuseeland, es bleibt nur noch zu sagen:
Mā te wā! (Maori für “Auf Wiedersehen!”)